Der Mythos um Studio 54
Erstellt am: 31.10.2007 - von: nw
Nachtclub der Exzesse
Grace Jones kam nackt in den New Yorker Club "Studio 54", John Gerard mit einem Affen, freigelassene Tauben flatterten in die Scheinwerfer und plumpsten gegrillt auf die Tanzfläche: Himmel und Hölle zugleich - so war die VIP-Disco, die 1977 eröffnet wurde.
Nie zuvor - und nie seither - hat es etwas Vergleichbares gegeben: Ein Club, in dem Friseure mit Filmstars koksten und Aussteiger mit Aristokraten. Ein Club, in dem jeder ein Star war, ob reich, arm, jung, alt, hetero oder schwul - so er denn am Türsteher vorbeikam. Selbst Lillian Carter, die Mutter des damaligen Präsidenten Jimmy Carter. "Ich weiß nicht, ob ich im Himmel war oder in der Hölle", sagte sie anschließend. "Aber es war wundervoll!"
Erinnerungen ans "Studio 54". Eigentlich ist ja das ganze "Studio" eine einzige Erinnerung. Ein Spuk aus fernen Zeiten, vor Terror, vor Krieg, vor Aids. Am Donnerstag ist es genau 30 Jahre her, dass er eröffnete, der Nachtclub an Manhattans 54th Street, der Disco zu einem Lebensgefühl machte und den Prominentenkult erfand. Nicht mal drei Jahre blühte er, sechs weitere dauerte sein Sterben. Doch das "Studio 54" veränderte alles. Veteranen wie John Gerard schwärmen heute noch, als sei es gestern gewesen.
Gerard, Friseur, besaß eine sichere Eintrittskarte ins "Studio 54", die exklusivste Disco der Welt: Die Eintrittskarte war ein Klammeraffe und hieß Max. Mit Max auf der Schulter kam der damals 19-Jährige immer am Türsteher vorbei. Max trank an der Bar gerne ein paar Biere, was ihn "erst fröhlich und dann böse" machte. Einmal riss er dem Erben einer Champagner-Dynastie fast die Nase ab. "Ach", sagt Gerard versonnen. "Waren das Zeiten!"
Praktische Gummiwände
Denn das "Studio 54" war mehr als nur eine Disco: "Es war Geschichte", schreibt Anthony Haden-Guest, selbst lange Stammgast, in seinem Buch "The Last Party", einem Nachruf auf die Disco-Ära. Andere drückten es profaner aus: "Es war der einzige Nightclub", bemerkte Modemacher Prinz Egon von Fürstenberg einmal kühl, "in dem man Sex haben konnte".
Umso erstaunlicher, dass das Duo, das das "Studio" erfand, von der VIP-Szene erst keine Ahnung hatte. Steve Rubell und Ian Schrager waren College-Freunde. Rubell war laut und immer für eine Party zu haben. Schrager war still und ganz der seriöse Geschäftsmann.
Beide besaßen bereits eine Steakhouse-Kette. Mit Hilfe eines Investors kauften sie dann auf der desolaten West Side ein altes Theater und TV-Studio, aus dem CBS lange die legendäre "Tonight Show" mit Johnny Carson gesendet hatte, und bauten es aufwendig zur Disco um.
Der Club war riesig. Die Tanzfläche bot 500 Menschen Platz. Darüber hingen das beste Soundsystem seiner Zeit und ein Neon-"Mann im Mond", der sich rhythmisch einen Löffel zur Nase führte. Bühne und Balkonrang waren erhalten geblieben. Einen Stock höher lag der berüchtigte "Rubber Room", dessen Gummiwände man abwaschen konnte. Der VIP-Raum war im Keller, mit einem Elton-John-Flipper.
Grace Jones kam gerne nackt
Die Eröffnung am 26. April 1977 geriet zur Sensation. 5000 Einladungen waren verschickt worden. Um Mitternacht herrschte in Midtown Chaos. Alle kamen sie zur "Studio"-Premiere: Cher, Frank Sinatra, Bianca Jagger, Margaux Hemingway, Donald Trump (damals noch unbekannt). "Als schlug der Blitz ein", staunte Schrager. Viele mussten draußen bleiben. Auch Warren Beatty und "Charlies Engel" Kate Jackson.
"Wir alle wussten, dass wir nicht nur der Eröffnung einer Discothek beiwohnten", sagt TV-Moderator Robin Leach, der die damals elfjährige Brooke Shields begleitete. "Sondern der Eröffnung von etwas Historischem."
Über Nacht war das "Studio" ein Begriff. Schrager und Rubell zahlten einer Promoterin für jeden "Top-Star", den sie anschleppte, 250 Dollar. Unter den Stammgästen: Diana Ross, Liza Minelli, Elizabeth Taylor, Andy Warhol, die Jaggers, Michael Jackson, Calvin Klein, Elton John, Madonna, Salvador Dali und Supermodel Christie Brinkley - "mit wehendem Haar, als habe sie ihren persönlichen Windtunnel", so Haden-Guest. Grace Jones kam gerne ganz nackt. "Irgendwann", sagte Co-Türsteher Christ Sullivan aber, "wurde das langweilig".
Disco-Hymnen eroberten vom "Studio" aus die ganze Welt: "I Love the Nightlife", "YMCA", "Last Dance". Die Popgruppe Chic schrieb ihren Megahit "Le Freak" aus Protest, nachdem sie vom "Studio"-Türsteher abgewiesen worden war. Dann wurde "Le Freak" ein Tanzflächenrenner im "Studio", und auch Chic kamen rein.
Das Ross kam rein, die Ladys nicht
Jede Nacht hatte ein Motto. Einmal engagierte Schrager eine Truppe Kleinwüchsige. Für "Saturday Night Fever" wurden weiße Tauben freigelassen, die prompt in den Scheinwerfern verendeten. "Hinterher kehrte einer lauter verkohlte Tauben mit einem Besen auf", berichtete "Fever"-Produzent Kevin McCormick.
Doch Türsteher Marc Benecke ließ nicht nur VIPs durch. Hauptsache originell. Etwa "Disco Sally", eine reiche, tanzwütige Greisin. Der Mann, der mit einer lebensgroßen Marionette schmuste. Der "Sanitäter" mit dem "Patienten" auf der Bahre, samt Lachgas für alle. Der Latin Lover, der im Anzug kam und sich dann bis auf ein Handtuch entblößte. John Gerard mit seinem Affen.
"Gemischter Salat" nannte Benecke das. Einer seiner Assistenten war Al Corley, der später als Steven Carrington in der TV-Serie "Denver Clan" selbst ein Star wurde. Einmal rückten zwei Mädels als halbnackte "Lady Godivas" hoch zu Ross an. Das Ross kam rein. Die Ladys nicht.
Im ersten Jahr vermeldete das "Studio 54" eine Million Dollar Umsatz. Offiziell. Inoffiziell war es viel mehr - schätzungsweise siebenmal so viel. Denn Rubell und Schrager führten doppelte Bücher. Hinzu kam ein florierendes Drogengeschäft (Kokain, Marihuana, Quaalude), das die Ausschweifungen des "Studios" überhaupt erst ermöglichte.
Mülltüten mit Millionen
Das konnte natürlich nicht lange gut gehen. Ein gefeuerter Mitarbeiter verpfiff seine Ex-Chefs schließlich bei der Steuerbehörde IRS. Bei einer Razzia im Dezember 1979 fanden 50 IRS-Agenten in einem Safe des "Studios" die echten Bücher, hinter den Wänden Mülltüten mit einer Million Dollar Bargeld - und Kokain.
Rubell und Schrager wurden wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 2,5 Millionen Dollar angeklagt und 1980 zu je dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Verbüßen mussten sie davon am Ende aber nur 13 Monate.
Das "Studio" schloss am 4. Februar 1980 mit einer Party namens "Das Ende des modernen Gomorrah". Sylvester Stallone soll den letzten Drink bestellt haben. Ein Gastronom kaufte das "Studio" für 4,75 Millionen Dollar und eröffnete es im September 1981 neu. Doch die meisten Promis ließen sich nie wieder blicken. 1986 war endgültig Schluss, und mit dem Studio ging ein Lifestyle unter, dem die Bürgermeister Rudy Giuliani und Mike Bloomberg später den endgültigen Todesstoß versetzen würden.
Max, der Affe, ist tot
Steve Rubell starb 1989 an Aids. Schrager tummelte sich noch etwas im Nachtleben, unter anderem mit dem "Palladium", dann wechselte er die Branche. Als einer der erfolgreichsten VIP-Hoteliers der USA ("Royalton", "Mondrian", "Delano") wurde er zum Multimillionär. Heute macht er in Immobilien. Das "Studio 54" ist derweil wieder zum Broadway-Theater mutiert.
Auch Max, der Klammeraffe, ist tot. Disco ebenfalls - sowie, mal ehrlich, das ganze New Yorker Nachtleben. John Gerard, 48, schneidet immer noch Haare. Er hat seit Jahren weder Alkohol noch Drogen angerührt und sich stattdessen nebenher zum Seelsorger ausbilden lassen. "Das Leben", seufzt er, "geht weiter".
Quelle: Spiegel