Auf der Suche einer dritten Dimension
Erstellt am: 12.10.2006 - von: Sabine
Kollaborationen zwischen Jazzmusikern und Elektro-Produzenten
Die Offenheit des Jazz ist nur schwer vereinbar mit den strikten Mustern in der elektronischen Popmusik. Seit Jahresbeginn sind nun aber verschiedene Alben erschienen, in denen die beiden Stile so miteinander verschränkt werden, dass sie sich gegenseitig befruchten.
«Superstructure» nennt sich eine Kollaboration des Techno-Produzenten Roman Flügel mit dem Vibraphonisten Christopher Dell. Ihr Projektname leitet sich zwar von der Nomenklatur des Jazz ab, inhaltlich ist die Musik traditionellen Spielweisen nur bedingt verpflichtet. Alle neun Figuren des Albums sind im Schwebezustand zwischen Track und freier Improvisation gehalten. Vereinzelte Anklänge, etwa an einen Herbie Hancock zur Hochzeit des elektrischen Jazz, werden im nächsten Moment von Techno-Drum-Patterns, frostig zischelnden Hi-Hats und Handclaps wieder verworfen. Musikalische Spannung erzeugen Dell und Flügel aus kontrapunktischer Gegensätzlichkeit. Flügel, ein Vertreter der Frankfurter Minimal- und Deep-House-Schule (die er unter Namen wie Acid Jesus, Alter Ego oder Sensorama seit langem pflegt), hat aus seinem Koffer allerlei, etwa auch ungerade Rhythmen, entnommen. Die Beats klingen, ihrer Funktionalität enthoben, um ein Vielfaches verschrobener als im Dancefloor-Kontext. Der Gary-Burton- Schüler Dell findet zu treibenden Klangfarben, als spiele er nicht gegen Flügels Beats an, sondern auf ihnen und über sie hinweg.
«Versioning» im Jazz
Einer ganz anderen Form von Kollaboration widmet sich die Jazzband Root 70 auf ihrem Album «Heads Dub», handelt es sich dabei doch um Coverversionen, die sie von der Musik des Elektronik-Produzenten Burnt Friedman gemacht hat. Ihre Interpretationen wurden von Friedman wiederum am Computer nachbearbeitet und verfremdet. Bandleader von Root 70 ist der in Zürich lebende deutsche Posaunist Nils Wogram. «Wir hatten bemerkt, dass Friedmans Musik auf Strukturen und Grooves basiert, wollten ihr aber nicht unseren Stempel aufdrücken.» Ziel sei es gewesen, die Tracks in eine akustische Situation zu rücken, ohne die Sounds zu imitieren.
Hayden Chisholm, der neuseeländische Saxophonist von Root 70, hat hierfür Arrangements geschrieben. Darauf ging das Band-Kollektiv ins Studio und extrahierte kollektive Klänge. «Heads Dub» entspricht tatsächlich seinem Titel, weil in der Arbeitsweise Bezug genommen wird auf das sogenannte Versioning des jamaicanischen Dub- Reggae. Die Interpretationen von Root 70 verleihen Burnt Friedmans Musik eine Genauigkeit, wo die Originale Unschärfe besitzen. «Ein akustisches Instrument», legt Wogram dar, «erzeugt andere Klangbilder als die Musik-Software Logic. Meine Posaune hat nun einmal einen schlanken Sound.» «Heads Dub» beweist eindrücklich, dass in den Zuschreibungen «lakonisch» und «cool» mehr steckt als musikalische Klischees.
Wider die Jazz-Klischees
Der Saxophonist Johannes Enders möchte elektronischer Popmusik «durch Akustik eine dritte Dimension» eröffnen. Auch auf dem neuen Album seines Projekts Enders Room, «Hotel Alba», verwendet der im bayrischen Weilheim beheimatete Musiker Computer-Beats und Synthesizer-Schleifen gleichberechtigt neben Piano-Spuren und Blechbläsersätzen. Elektronik habe ihm dabei geholfen, sich von seinen Jazz-Vorbildern zu lösen, erklärt Enders, der seine Musik inzwischen im eigenen Heimstudio konzipiert, ausser Saxophon auch Orgel und Gitarre spielt und zu seinen Stücken gelegentlich singt.
Wo in der elektronischen Popmusik nach wie vor der Produzent tonangebend ist, arbeitet Enders seine Kompositionen immer im Kollektiv aus. Auch diesmal wirken befreundete Musiker aus der Weilheimer Szene (unter anderem von der Band The Notwist) entscheidend mit. Enders' Album ist dann auch am überzeugendsten, wenn der Gruppenklang eine Unterscheidung der analogen und digitalen Spuren verunmöglicht und durch das zurückhaltende Agieren aller Beteiligten eine raumhafte Dynamik entsteht. Genauer als die von Enders programmierten Beats sind allerdings die von Markus Acher bedienten, aufs Wesentliche reduzierten Drums, denen man die Kenntnis der Strukturen der elektronischen Musik anhört. Erstaunlich, dass die Mischung aus elektronischen Elementen und der intimen Atmosphäre des Jazz am besten in Enders' bluesbetonten Kompositionen gelingt.
Skalen der Steigerung
«The Exchange Session» ist das in zwei Teilen dokumentierte Aufeinandertreffen des britischen Produzenten und DJ Kieran Hebden mit dem amerikanischen Free-Jazz-Schlagzeuger Stevie Reid. In einer Live-Aufnahme improvisiert Reid auf den Drums zu den Sounds, die Hebden mit seinem Sampler «Dr. Sample» erzeugt. Es geht dem Duo um die Skalen der Steigerung, um ein Testen von Grenzen zwischen dem von Menschenhand gespielten Puls und dem Klangspektrum eines modernen Samplers. Wobei Kieran Hebden keine Melodien samplet, er manipuliert vielmehr kurze Tonsegmente alter Keyboards und Schallplatten. Auf dem Album-Cover werden mit der Technik der Überbelichtung Fotos der Musiker zu einem einzigen Bild fusioniert. Im Gespräch widerspricht Kieran Hebden allerdings der Ansicht, wonach es sich bei «The Exchange Session» um Fusion handelt. Vielmehr habe sich in der Session eine neue Form musikalischen Austausches entwickelt, mit Elementen aus Free Jazz und Elektronik.
Es gelingt den beiden Musikern zwar nicht, die Spannung über zwei CD aufrechtzuerhalten. Das Scheitern ist aber einkalkuliert, denn der atonale Lärm mag mitunter konturlos sein, immerhin jedoch von furioser Energie. «Elektronische Musik gilt heute, anders als in den Achtzigern, nicht mehr per se als futuristisch. Meine elektronischen Sounds symbolisieren weniger Fortschritt als vielmehr eine diffuse Zukunftsangst», erklärt Hebden. Und Stevie Reid schreibt in den Liner-Notes von einer «Renaissance aus Rhythmen und Improvisation». Jedenfalls lebt dieses Duo von gegenseitiger Inspiration: Reids Timing passt sich bisweilen den wellenförmigen Samples von Hebden an, bisweilen legt er aber Schlagzeugrhythmen vor, an denen sich der Elektroniker orientiert.
Quelle: www.nzz.ch