Bucht-Tipp: Techno
Erstellt am: 18.09.2006 - von: nw
von Philipp Anz und Patrick Walder
Die Nummer 580 035 des US-amerikanischen Patentregisters aus dem Jahre 1897 lautet auf den Namen Thaddeus Cahill. Dieser liess sein Dynamophon (auch Telharmonium) patentieren, das erste Instrument, das mit Hilfe des elektrischen Stroms die Luft zum Schwingen brachte und also Töne erzeugte. Cahills Absicht, die orchestrale Instrumentierung um ein Gerät zu bereichern, das alle möglichen Klangfarben erzeugen konnte, machte die Konstruktion eines 200 Tonnen schweren, 18 Meter langen und 200 000 Dollar teuren Monstrums notwendig. Ein Zeitgenosse beschreibt die Wirkung des Dynamophons so: «Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erfüllt, unsichtbar, mühelos und unermüdlich.»
Eine Dekade später wurde der Komponist Ferruccio Busoni auf die Erfindung aufmerksam und setzte in seinem Essay «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» (1906) grosse Hoffnungen in das neue Instrument, insbesondere wollte er damit sein Dritteltonsystem umsetzen. «Wichtig und drohend ist die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, dass ich während der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher Weise löst.» Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills Erfindung. «Weil der technische Fortschritt zwar stetig, aber nur langsam vorankam, erfolgte der Durchbruch der elektronischen Musik erst in den 1950er Jahren. Busoni schien diese Verzögerung vorausgeahnt zu haben, als er schrieb: «Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung des Ohres werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.»
Heute ist es soweit. Der Traum einiger Komponisten zu Beginn dieses Jahrhunderts – wie auch von Edgar Varèse, der 1917 in Francis Picabias Zeitschritt 391 schrieb: «Ich träume von Instrumenten, die ungeahnte Klangfarben aufblühen lassen» – ist wahr geworden. Und erschwinglich. Denn Techno, die elektronische Tanzmusik mit den immer wieder neuen, nie gehörten Klängen und Geräuschen, wurde erst möglich, als die Japaner in den 80er Jahren mit günstigen Geräten auf den Markt kamen. Die Rolands und Yamahas wurden zu Spielzeugen der angeblich mit dem No-Future-Virus angesteckten Kids. Diese verkrochen sich hinter ihren Geräten und probierten sie aus, ohne eine genaue Vorstellung im Kopf zu haben, was dabei herauskommen sollte. Der Zufall spielt im Techno eine grosse Rolle. Als 1985 in Chicago DJ Pierre an den Knöpfen seines Synthesizers drehte, um eine einfache Basslinie zu programmieren, entdeckte er Modulationsmöglichkeiten, die im Gerät zwar vorhanden, aber «eigentlich» gar nicht vorgesehen waren. So entstand der Acid-Sound, der massgeblich zur ekstatischen Verrücktheit der Techno-Tänzerinnen und -Tänzer beigetragen hat.
Knapp hundert Jahre nach der Erfindung des Dynamophons ist auch die «fortgesetzte Erziehung des Ohres» mehr oder weniger abgeschlossen; die Techno-Musik ist mehrheitsfähig geworden, wenn auch erst im Laufe der letzten Monate. Denn «Techno» war lange Zeit ein Wort, das mit seinem vulgären Klang und seiner verwandtschaftlichen Nähe zu Worten wie «Brutalo» oder «Sadomaso» Primitivität signalisierte, dadurch die einen zwar magnetisch anzog, die anderen aber, und das waren die meisten, abschreckte. Als Techno-Parties immer mehr Kids nächtelang in ihren Bann zogen, sandten die Medien ihre Reporterinnen und Reporter aus, die entsetzt berichteten, wie die Kids unter Stroboskop-Gewittern und elektronischem Bumbum verblödeten und akustisch vergewaltigt würden. Erst Anlässe wie die letztjährige «Street-Parade» brachten den Stimmungsumschwung in der (zürcherischen) Öffentlichkeit, als besorgte Eltern zu Tausenden die Strassenränder säumten, um mit eigenen Augen zu sehen, «was Techno eigentlich ist», um beruhigt zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Kinder zwar vielleicht ein bisschen verrückt, aber keineswegs ernsthaft geschädigt waren.
Die über die Musik hinausgreifende Techno-Kultur zwischen Berlin, Chicago, London, Rotterdam und Tokio zerfällt heute in unzählige Szenen, und Zürich spielt in diesem Puzzle eine eigene Rolle. Zürich ist nicht der Ort, wo Impulse gegeben werden, sondern wo Techno als Musik und partieller Lebensstil begeistert aufgenommen wird. Zürich ist Party-, nicht Produktionsstandort. Zürich hat in Techno eine willkommene Gelegenheit erkannt, zwinglianische Altlasten über Bord zu werfen, und hat sich jauchzend ins Techno-Fieber gestürzt. Die kürzlich in Zürich herausgekommene Textsammlung «Techno» ist der Ausdruck von Erfahrungen, die mit dieser Kultur hier gemacht worden sind. Es ist der Versuch, eine nonverbale Kultur sprachlich zu vermitteln.
Die Herausgeber des Buches «Techno», Philipp Anz und Patrick Walder, sind selber Techno-Aktivisten, wie auch die meisten anderen 29 Autorinnen und Autoren entweder als Plattenaufleger, Veranstalter oder Szene-Journalisten tätig sind oder sich an Parties kennengelernt haben. «Techno» ist ein dickes und schönes Buch geworden, und die 29 Augenpaare werfen einen naturgemäss vielseitigen und vielsagenden Blick auf die «Jugendkultur der 90er Jahre». Weil es Techno nicht gibt, wie die Herausgeber im Vorwort zu Recht sagen, muss die Leserin, muss der Leser sich ein eigenes Bild machen, hat sich quer durch das Buch zu lesen, was angesichts der Erzählfreudigkeit der Autorinnen und Autoren keiner grossen Anstrengung bedarf, wenn man sich einmal an den Sprachstil der Pop- und Lifestyle-Magazine gewöhnt hat. Zu entdecken gibt es sowohl für Laien wie für Eingeweihte auf Schritt und Tritt durchaus Neues. So bietet das Kompendium einerseits eine immense Fülle an Informationen zur Techno-Musik; das Thema wird mit zürcherischer Gründlichkeit abgegrast. Sowohl die DJ- und Produzenten-Porträts als auch die Stilbeschreibungen sind äusserst kurzweilig zu lesen. Der Vielschreiber Sascha Kösch etwa hangelt sich von Einfall zu Einfall, oft am Rande des Plausiblen, aber mit faszinierender Leichtigkeit.
Andererseits bietet «Techno» Interpretationen und Analysen, Selbstanalysen eigentlich, indem Zürcherinnen und Zürcher versuchen, ihrer Faszination Ausdruck zu geben und gleichzeitig das Phänomen zu vermitteln. Eine schwierige Aufgabe, weil der eigene Idealismus die zur Beobachtung notwendige Distanz nicht allzusehr verkürzen darf. Christine Steffens Beschreibung des «Rave-Phänomens» ist unaufdringlich und engagiert zugleich; in der Genauigkeit der Beobachtung etwas vom Besten, was über Techno als Jugendkultur bisher geschrieben wurde. Hingegen entstehen Probleme immer dann, wenn auch die Sprache «feiert». In einigen Beiträgen vernebeln schwülstige Wortgemälde den Blick und wecken gegenüber den vorgebrachten Thesen Misstrauen. Und leider verpatzt die mehrmals eingeschobene Serie «Technoheads» in ihrer häppchenartigen Aufmachung den vermittelnden Anspruch und die sonst sorgfältige Gestaltung des Buches. Letztere stammt von Viola Zimmermann und vermag in ihrer nüchternen Zurückhaltung den Wörterdampf mancher Texte zu kühlen. Die leserfreundliche Aufmachung sowie die über weite Strecken gelungene Verbindung von Manifest und Analyse machen «Techno» nicht zum Techno-Buch, sondern zu einem Buch über Techno. Und das ist auch der Anspruch der Herausgeber.
Techno ist, was man nicht versteht. Gerade der berühmte «Underground» baut auf das Spiel mit dem Geheimnisvollen und Exklusiven einer abstrakten und unvertrauten Ästhetik. Mit diesem Buch ist der Deckel gehoben, und es fällt ein Licht darauf: nicht nur auf die Musik, sondern auch auf das Gesicht des DJ und Produzenten, der zuvor im Schatten eines Kult-Labels seltsame Musik machte. Techno ist mit diesem Buch sozusagen erwachsen geworden und redet fortan mit im Diskurs der Popkultur, die sich in den nächsten Jahren radikal verändern wird. Denn schon entsteigt die Post-Techno-Generation dem Underground und nimmt die Zukunft in Angriff: mit den Künstlerinnen und Künstlern des Cyberspace, deren Schatzkisten nicht 303 und 909, sondern Amiga und Modem heissen. Für diese liegt Techno bereits in der Steinzeit, denn sie feiern ihre Parties nicht mehr mit Tonträgern und Plattenspielern, sondern via Internet und in der Datenbank.
Sondereinband: 284 Seiten
Verlag: bilgerverlag
Sprache: Deutsch
ISBN: 3908010144